Riskanter Abnehm-Trend im Internet

Riskanter Abnehm-Trend im Internet

Fettweg-Spritze nicht leicht­fertig nutzen – Mediziner sieht aber auch Chance

VON ANNA WEYH / Dienstag, 09. Mai 2023, Hessische Allge­meine (Kassel-Mitte) / Kassel

Kassel – Gewicht verlieren ohne Sport und Diät – das funktio­niert mithilfe des Medika­ments Ozempic. Auch Promi­nente wie Elon Musk und Kim Karda­shian nutzen angeblich die Wunder­spritze zum Abnehmen und haben so im Internet einen Hype um das Medikament ausgelöst. Doch vor den teilweise heftigen Neben­wir­kungen warnt unter anderem die Deutsche Gesell­schaft für Endokri­no­logie. Außerdem befürchtet die Inter­es­sens­ver­tretung einen Mangel des Medika­ments für seinen eigent­lichen Anwen­dungs­be­reich: für die Blutzu­cker­re­gu­lierung bei Diabetes Typ 2.


Das Abnehmen sei eigentlich nur ein Neben­effekt: „Der Wirkstoff Semaglutid setzt im Mittelhirn ein und hemmt den Appetit, indem es körper­eigene Hormon­im­pulse imitiert. Der Körper empfängt das Signal, dass er satt ist“, sagt Dr. Johannes Heimbucher, Chefarzt der Klinik für Allgemein- und Visze­ral­chir­urgie und Leiter des Adipo­sit­aszen­trums Nordhessen am Marienkrankenhaus Kassel.
Er kriti­siert den unreflek­tierten Gebrauch. Denn schon jetzt geben plastische Chirurgen ihren Patien­tinnen und Patienten die Spritzen unbedarft zum Auspro­bieren mit – auch im Raum Kassel. Heimbucher betont, dass das Medikament bei uns als reine Abnehmkur nicht zugelassen sei – schon gar nicht für Menschen, die nicht an Adipo­sitas leiden.
„Das Medikament wirkt sehr komplex im Körper“, so Heimbucher. Es sei nicht ratsam, ein Medikament mit hohem Neben­wir­kungs­po­tenzial zweck­ent­fremdet anzuwenden – und das auch noch ohne ärztliche Begleitung. „Es kann Übelkeit, Erbrechen, Unwohlsein und Kreis­lauf­pro­bleme mit sich bringen. Für die Adipo­sitas-Behandlung ist eine ganz andere Dosierung notwendig“, warnt der Chefarzt. Auch Entzün­dungen der Bauch­spei­chel­drüse und der Gallen­blase seien möglich.
Aktuell sehe die Regeldo­sierung des Medika­ments eine Spritze im Monat vor. Diese koste etwa 300 Euro. In Nordamerika und Mexiko ist das Medikament als reine Abnehmkur schon auf dem Markt – das Medikament in dieser Funktion und mit anderer Dosierung als Ozempic trägt den Namen Wegovy. Die Nachfrage ist hoch.
Der Hersteller rechne im Sommer auch mit der Zulassung in Deutschland. Dann sei das Adipo­sit­aszentrum im Marienkrankenhaus auch bereit, Patien­tinnen und Patienten zu begleiten, die für die Abnehmspritze in Frage kommen und diese Therapie wünschen. „Wir würden gemeinsam mit der Univer­sität Göttingen an Studien zur Erprobung des Medika­ments mitwirken“, sagt Heimbucher.
Noch könne nichts über die langfris­tigen Erfolge zur Behandlung von Adipo­sitas gesagt werden. „Die Studien im Ausland dazu laufen erst ein bis zwei Jahre“, so der Kasseler Experte. Heimbucher beobachtet: „Die meisten nehmen durch die Spritzen substan­ziell Gewicht ab, aber ohne die Spritzen werden sie wieder zunehmen.“ Das sehen Medizi­ne­rinnen und Mediziner bislang bei allen Adipositas-Therapien.
„Viele Facetten spielen bei Adipo­sitas eine Rolle: in erster Linie das Erbgut, aber auch Schön­heits­ideale in der Gesell­schaft und andere soziale Parameter. Ebenso die psychische Verfassung, der Einfluss der Werbung und natürlich die persön­lichen Aktivi­täten“, so Heimbucher. Die Abnehmspritze greife nur einen kleinen Teil im Hirn davon auf. „Alles andere läuft wie gehabt weiter. Jemand, der krankhaft überge­wichtig ist, kann sich nicht aussuchen, ob er essen will. Die Impulse sind stärker als bei einem Kokain-Süchtigen. Das ist unheimlich quälend für die Menschen.“ Die Abnehmspritze allein werde diese Menschen nicht heilen, ist er sicher. Es gebe keinen Beweis dafür, dass irgendeine Monothe­rapie langfristig wirkt. „Weder eine OP oder eine Diät, noch eine Spritze allein werden adipöse Menschen zum Erfolg bringen“, so der Chefarzt. Dennoch sieht er in der Spritze eine poten­zielle Chance, wenn sie früh genug einge­setzt wird und andere Faktoren parallel dazu behandelt werden. „Wir im Marienkrankenhaus arbeiten auch psycho­lo­gisch an der Verän­derung von Verhal­tens­weisen und koope­rieren mit Fitness­studios“, sagt er.
Die Chirurgen begrüßen die Spritze neben vielen anderen Thera­pie­mög­lich­keiten als Ergänzung. „Sie kann vielleicht eine Art Brücke zur Verän­derung werden, wodurch wir Zeit gewinnen, um die anderen Faktoren zu behandeln“, so der Chefarzt.